4/1/1 | Programmlinien / Aktuelle Programmlinien / Geschichte und Theorie der Biographie
Theorie der Biographie
Die Biographie als gelebtes Leben scheint der Selbsterfahrung unmittelbar zugänglich zu sein, ja nichts scheint so vertraut, so unmittelbar evident wie der eigene Lebensvollzug. Und doch - verhält es sich nicht so wie mit dem Phänomen der Zeit, von dem es in den Bekenntnissen des Augustinus heißt: „Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht“? Was ist der ‚bios‘, der ‚graphisch‘, schriftstellerisch bearbeitet also, zur Biographie werden kann und damit bereits mehr ist als Leben in bloß biologischem Sinn? Was also - nach Immanuel Kant die komplexeste aller Fragen - ist der Mensch?
Das Institut hat in wenigen Jahren eine Vielzahl paradigmatischer Werke der neuzeitlichen Biographik - hermeneutsche, historische, gesellschaftskritische, psychoanalytische, dezidiert literarische, postmoderne Biographien - ebenso reflektiert wie wichtige Momente zur Grundlegung einer Theorie der Biographie: den Status biographischer Quellen, die Bedeutung sozialer Konstituenten, Genderperspektiven, Fragen der Medialität und kultureller Transferleistungen durch Biographie. Daraus sind neben zahlreichen Einzelpublikationen und Symposiumsbeiträgen fünf Buchpublikationen hervorgeganegn, darunter die beiden umfangreichen Bände: Die Biographie - Beiträge zu ihrer Geschichte und Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie.
Indes, eine große, systematisch angelegte monographische Studie zur Theorie der Biographie ist nach wie vor dringendes Desiderat der Forschung. Zudem sind neue, experimentelle und dezentrierte Formen biographischer Präsentation bis hin zu hypertextuell strukturierten, interaktiv organisierten Internetbiographien mitzureflektieren, wie es bisher nur ansatzweise geschehen ist. Oft genug geht aber die Praxis der Theorie voraus: Eine multimediale, etwa dreihundert Dokumente vernetzt darbietende Ernst Jandl-DVD wurde anlässlich der „Ernst Jandl Show“, einer Ausstellung im Wien Museum, zu der ein Begleitband erschien, im November 2010 öffentlich präsentiert.
Das Institut möchte hier weiterreichende Perspektiven entwickeln und sich damit an der vordersten Linie internationaler Entwicklungen positionieren. Zu Hugo von Hofmannsthal soll auf Basis einer spezifisch strukturierten Datenbank des Institus eine innovative Plattform mit Modellcharakter im Bereich der Kulturwissenschaften entstehen. Zudem werden multimediale Möglichkeiten virtueller Museen die Zukunft biographischer Praxis und Vermittlung maßgeblich mitbestimmen und bereichern. Biographies on the move.